E.A.S.T. (Essential Autonomous Struggles Transnational)
[English]
Am 11. April trafen sich Mitglieder von EAST, Frauen und LGBTQIA+ aus der Türkei, Polen, Griechenland, Italien, Bulgarien, Rumänien, […] aufgrund des Rückzugs der Türkei aus der Istanbul-Konvention zu einer öffentlichen Versammlung. [Wir] haben uns getroffen, um [uns] transnational in unserem Kampf für die Freiheit von Frauen und LGBTQIA+ Menschen zu organisieren.
Erdogans Rückzug aus der Istanbul-Konvention über Nacht sendet eine klare Botschaft an alle Frauen: Männliche Gewalt gegen Frauen muss als Grundsatz der Familie und ihrer Ordnung akzeptiert werden. E.A.S.T. steht an der Seite der kämpfenden Frauen in der Türkei und ruft alle Frauen, systemrelevante ArbeiterInnen, MigrantInnen und LGBTQIA+ auf, gemeinsam eine transnationale Antwort auf den patriarchalen Backlash zu organisieren, den wir in jeder Ecke Europas und darüber hinaus erleben. Die Ratifizierung der Istanbul-Konvention bedeutet weder, dass ihre Prinzipien angewendet werden, noch dass ein solches Dokument, das keine Sanktionen bei Nichtumsetzung vorsieht, eine Lösung für patriarchale Gewalt ist. Wir wissen jedoch, dass ein Dokument wie dieses nach langjährigen transnationalen feministischen Kämpfen zustande gekommen ist, und seine Rücknahme ein direkter Angriff auf uns alle ist.
Erdogans Angriff auf die Freiheit der Frauen ist kein isoliertes Ereignis. Es hat nicht mit der Istanbul-Konvention begonnen, sondern ist eine Fortsetzung anderer Angriffe auf hart erkämpfte Frauenrechte und hat bereits kritische Auswirkungen auf ihr Leben: Unterlassungsklagen sind schwerer durchzusetzen und einstweilige Verfügungen werden nur für kürzere Zeiträume gewährt. Die patriarchale Gewalt verschärft sich genau in diesem Moment. Dieser Angriff kommt als Teil einer Flut von politischen Maßnahmen und Aktionen gegen Frauen und LGBTQIA+ von politisch konservativen Persönlichkeiten und Regierungen in ganz Europa und darüber hinaus. In Polen hat die Regierung kürzlich ein Gesetz verabschiedet, das die Möglichkeit einer legalen Abtreibung weiter einschränkt, worauf Frauen mit einer außergewöhnlichen Mobilisierung weit über die Grenzen Polens hinaus reagierten. Am 30. März verabschiedete das polnische Parlament eine Gesetzesvorlage mit dem Titel “Ja zur Familie, nein zum Geschlecht”, um eine alternative Konvention zu entwerfen, die zum Austritt aus der Istanbul-Konvention führen würde. In ganz Ost- und Mitteleuropa ist die Konvention seit Ende 2017 unter Beschuss und wurde in Ländern wie Bulgarien, der Slowakei und Ungarn nicht ratifiziert. Das beeinträchtigt die langjährigen Kämpfe von Frauenorganisationen gegen häusliche und geschlechtsspezifische Gewalt. Dies geht Hand in Hand mit einer Politik, die in Griechenland, Italien, Ungarn, der Tschechischen Republik und anderen Ländern umgesetzt wird und die darauf abzielt, die Idee der traditionellen Familie über die Freiheit der Frauen zu stellen. Vielerorts werden Frauenhäuser für Frauen, die vor häuslicher Gewalt fliehen, nicht mehr finanziert, und es wird immer schwieriger, sich scheiden zu lassen oder das Sorgerecht in Fällen von missbräuchlichen Beziehungen zu erhalten. An vielen Orten ist es fast unmöglich, eine kostenlose und legale Abtreibung zu bekommen.
Dieser koordinierte Angriff, der in ganz Europa und darüber hinaus stattfindet, geschieht inmitten einer globalen Pandemie. Für viele Frauen bedeutet der Lockdown ein Leben in einem tödlichen Käfig. Die Pandemie wurde von den Regierungen als Gelegenheit genutzt, um Frauen wieder an ihren “traditionellen” Platz zu setzen: zu Hause, wo sie sich um die Familie kümmern. Das ist umso unerträglicher, als wir diejenigen sind, die die wichtigsten Arbeiten verrichten, im Gesundheitswesen, der Hausarbeit und anderen wichtigen Bereichen. Wir halten die Gesellschaft über Wasser. Die kapitalistischen Gesellschaften brauchen unsere schlecht bezahlte Arbeit in diesen Bereichen ebenso wie unsere kostenlose Arbeit zu Hause. Diese Angriffe richten sich eindeutig gegen unsere Versuche, sich dem zu entziehen, was als unsere “natürliche” Pflicht angesehen wird. Außerdem wurden diejenigen von uns, die keine wesentlichen Arbeiten verrichten, massiv entlassen, was unsere ökonomische Abhängigkeit von unseren Partnern, Prekarität und Isolation verstärkt.
Wir weisen die kolonialistische Rhetorik eines Kulturkampfes zwischen einem fortschrittlichen und liberalen Westen und einem rückständigen und unzivilisierten Osten zurück. Unsere gemeinsamen, wenn auch unterschiedlichen Erfahrungen der Unterdrückung haben gezeigt, dass wir ständig von strukturellen Mechanismen angegriffen werden, die eingerichtet wurden, um überall Kapitalakkumulationsprozesse zu schützen. In diesem Zusammenhang ist die EU bereit, bei diesem Angriff auf Frauen ein Auge zuzudrücken, wenn Erdogans Regime Flüchtlinge außerhalb der EU-Grenzen hält. Der Austritt aus der Istanbul-Konvention wird Frauen, die vor männlicher Gewalt fliehen, die Möglichkeit verwehren, Asyl zu bekommen. In den Flüchtlings- und Internierungslagern an den Grenzen Europas, von Libyen bis Marokko, von der Türkei bis zur Balkanroute, wird täglich männliche und staatliche Gewalt gegen MigrantInnen ausgeübt. Beim Überschreiten der europäischen Grenzen bindet die Verbindung von Aufenthaltsgenehmigung und Familienstand oder Arbeitsvertrag die Frauen an ihre Partner oder Familienmitglieder – auch wenn diese gewalttätig sind! – und zwingt sie dazu, unerträgliche Arbeits- und Lohnbedingungen zu akzeptieren.
Wir wissen, dass die Sozialsysteme vieler westeuropäischer Länder zusammenbrechen würden, wenn nicht Hunderttausenden von MigrantInnen, insbesondere aus Mittel- und Osteuropa, als billige Hausangestellten arbeiten würden. Diese Frauen werden von ihren Regierungen beschuldigt, ihre Familien zu zerrütten. Gleichzeitig finden sie in den Zielländern keine besseren Bedingungen vor, sondern werden ausgebeutet, belästigt und institutionellem Rassismus ausgesetzt. Wir kaufen der EU nicht die Lüge ab, sie sei die Verteidigerin der Rechte von Frauen und LGBTQIA+. Ihre Regierungen lassen zu, dass wir jeden Tag getötet und vergewaltigt werden, dass wir ausgebeutet, überarbeitet und diskriminiert werden.
Wir prangern alle Angriffe auf LGBTQIA+ an. Die Kriminalisierung ihrer Lebensweise und deren von Frauen, insbesondere von MigrantInnen und Migranten, dient dazu das Bild einer imaginierten traditionellen Familie zu verstärken und zum unausweichliches Schicksal aller zu machen. So wird die Familie nicht nur als symbolische Institution, sondern auch als Schockabsorber der Armut angesichts des Abbaus der Sozialsysteme gewaltsam wiederhergestellt. Unter diesen Umständen bedeutet die Stärkung der Geschlechterrollen die Aufrechterhaltung der Hierarchie zwischen Männern und Frauen: Die Legitimierung männlicher Gewalt durch die Aufhebung der Istanbul-Konvention bedeutet, dass Männern und patriarchalen Institutionen die Autorität gegeben wird, Frauen zu bestrafen, die ihrer angeblich natürliche Rolle als Mütter, Ehefrauen oder Töchter nicht nachkommen.
Wir sagen laut: Der Kampf gegen die Unterordnung von Frauen in der Familie und der Kampf von LGBTQIA+ für sexuelle Freiheit und gegen Kriminalisierung ist ein gemeinsamer Kampf. Unser gemeinsames Ziel: Die Subversion der neoliberalen Reproduktion der patriarchalen Gesellschaft!
Wir haben keine Angst, weil wir bereits jeden Tag gegen Gewalt kämpfen. Es ist klarer denn je, dass dieser Kampf heute eine stärkere transnationale Organisation erfordert, von Ost nach West, von Nord nach Süd. Unseren eingeschworenen Feinden sagen wir: Lauft, lauft, lauft, die Frauen sind hinter euch her…
Um unsere Kräfte zu bündeln und eine transnationale Mobilisierung vor dem Sommer zu organisieren, werden wir uns am 23. Mai wieder treffen (für weitere Infos folgen Sie uns auf Facebook: https://www.facebook.com/EASTEssentialStruggles).
Kollektive und Organisationen, die die Erklärung unterschreiben wollen, schreiben bitte an essentialstruggles@gmail.com